Gesundheit ist nicht konsumierbar. Was Kinder brauchen.
Kinder und Jugendliche von heute erleben vielfach ein Wechselbad zwischen Über- und Unterforderung, Überfluss und Mangel. Immer mehr Kinder reagieren darauf mit psychosomatischen und mentalen Störungen. Der Einsatz von Medikamenten dagegen sollte kritischer hinterfragt werden. Der Schlüssel zu mehr Gesundheit und Wohlbefinden liegt im Elternhaus, im Kindergarten und in der Schule.
Von Prof. Dr. Klaus Hurrelmann
Gesundheit ist viel mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit und Krankheit haben neben der körperlichen auch eine psychische und soziale Komponente. Die Weltgesundheitsorganisation drängt seit 50 Jahren auf diese umfassende Betrachtung, die im Bewusstsein der Menschen noch wenig verankert ist. In der gesundheitswissenschaftlichen Forschung hat sie sich inzwischen durchgesetzt. Danach bildet Gesundheit ein Gleichgewicht von störenden und schützenden körperlichen und geistigen Faktoren, die täglich ins Gleichgewicht zu bringen sind. Das gelingt nur, wenn der Mensch seinen Körper, seine genetische Ausstattung und seine Persönlichkeit akzeptiert und souverän damit umgehen kann. Aber auch die allgemeine Lebenssituation trägt maßgeblich zu Wohlbefnden und Lebensfreude bei: Familie und Freundschaften, Wohn- und Ernährungsbedingungen, der Ausgleich zwischen Leistungsanforderungen und entspannenden Freizeitaktivitäten.
Genau hier haben Kinder und Jugendliche heute die größten Probleme. Gesundheitliche Störungen liegen im Schnittbereich zwischen Körper, Psyche und Umwelt. Die Alarmsignale sind nicht zu übersehen.
Alarmsignal 1: Bei immer mehr Kindern und Jugendlichen streikt das Immunsystem
Etwa 20 Prozent aller Kinder leiden unter allergischen Erkrankungen. Darunter sind eher harmlose Beeinträchtigungen wie zum Beispiel leichter Heuschnupfen oder eine gelegentliche Bindehautentzündung. Es treten aber auch gefährliche, teils lebensbedrohliche Atemwegsstörungen vom Typ Asthma sowie schwere Hauterkrankungen vom Typ Neurodermitis auf. Ganz offensichtlich hat ein mangelhaft trainiertes Immunsystem mit der sprunghaften Ausbreitung dieser Krankheiten zu tun.
Es rächt sich, dass Kinder in klimatisierten Räumen mit kuscheligen Teppichböden groß werden und nur noch in hygienisch einwandfreien Sandkästen spielen. Die Widerstandskräfte des Körpers werden nicht trainiert, Belastungen durch psychischen Druck können nicht richtig abgewehrt werden. Dabei fällt auf, dass von Asthma und Neurodermitis verstärkt Kinder aus den wohlhabenden Familien heimgesucht werden – es handelt sich um echte Zivilisationskrankheiten.
Alarmsignal 2: Fehlsteuerungen in der Ernährung
Hier sind es vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schlechter gestellten Familien, die preiswerte, kalorienreiche Fast-Food-Gerichte zu essen bekommen. Diese Produkte sind zu fett, zu süß, zu salzig und enthalten zu wenig Ballaststoffe. Der Darm wird gerade noch zu „Teilzeitarbeit“ ermuntert. Die Folge von überschüssigen Kalorien bei gleichzeitigem Bewegungsmangel ist Übergewicht. Der Haltungsapparat wird völlig überlastet, die Blutfettwerte übersteigen den Normbereich. In Deutschland weisen inzwischen rund zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen erschreckendes Übergewicht auf.
Alarmsignal 3: Fehlende Anregung und Schulung der Sinne
Bewegungsmangel und eine einseitige Anregung des Hör- und Sehsinns treten oft zusammen auf. Riechen, Fühlen und Sprechen werden vernachlässigt und verkümmern immer mehr. Gameboy und Bildschirm, teils aber auch Familie, Kindergarten und Schule bieten eine unausgewogene „Sinneskost“. Dieser Mangel führt bei Kindern und Jugendlichen verstärkt zu motorischen Koordinationsproblemen. Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen klagen bereits bei kleinen Kindern über eine schlechte Feinmotorik. Die Verbindungen zwischen den Schaltzentren im Gehirn werden nicht hergestellt, es kommt zu Unsicherheiten und Ungeschicklichkeiten. Bereits bei zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen. Viele können nicht sicher mit einem Bleistift zeichnen, andere können kaum richtig gehen. Überschneiden sich diese Probleme mit schlechtem Ernährungsverhalten und mangelnder Bewegung, wird die Entwicklung mehrfach beeinträchtigt.
Alarmsignal 4: Aufmerksamkeitsdefzite und Hyperaktivität steigen
An und für sich hoch intelligente Kinder können sich nicht konzentrieren, sind unruhig und außerstande, eine Arbeit oder eine Aktivität zu Ende zu führen – man schätzt bis zu vier Prozent eines Jahrgangs. Zugrunde liegt eine Stoffwechselstörung im Gehirn, die aber offensichtlich durch hektischen Lebensstil und unsichere Beziehungen zu den Eltern erst freigelegt wird. Mitunter neigen Ärzte zu einer Behandlung mit Psychostimulanzien (z. B. Ritalin), vergessen aber die psychische und soziale Einbettung dieser Störung, die nach ruhiger und konsequenter Erziehung und zumindest zeitweiser psychotherapeutischer Begleitung verlangt.
Alarmsignal 5: „Bewältigungsverhalten“ mangelhaft
Viele Kinder und Jugendliche können mit seelischen Konflikten und sozialen Anspannungen nicht richtig umgehen. Sie haben nicht gelernt, Enttäuschungen hinzunehmen, einen Misserfolg wegzustecken oder mal ein kritisches Wort zu verdauen: Sie knicken bei den kleinsten Irritationen ein. So ist es wohl zu erklären, dass in allen Untersuchungen immer mehr psychosomatische Störungen wie Verdauungsprobleme, Kopf-, Magen- und Rücken schmerzen, bis hin zu Depressionen und Suizidversuchen festgestellt werden, vor allem bei den Mädchen. Jungen reagieren ihre innere Anspannung häufiger mit Überaktivität, Gereiztheit und Aggressivität nach außen ab, bis hin zu gewalttätigem und kriminellem Verhalten. Bei fünf Prozent der Mädchen und zehn Prozent der Jungen ist diese nach innen oder nach außen gerichtete krankhafte Form der Spannungsbewältigung zu beobachten – Tendenz steigend.
Alarmsignal 6: Druckabbau durch Drogen und Medikamente
Eine weitere Variante dieses krankhaften Spannungsausgleichs ist der Konsum von Medikamenten und psychoaktiven Substanzen. Schmerzstillende Arzneimittel, Zigaretten und Alkohol werden in immer jüngerem Alter genutzt, in einer so intensiven Form, dass schon früh körperliche und psychische Schäden entstehen. Die Kinder weichen den Problemen und Konfikten in Familie und Schule damit aus und flüchten in die Clique, die oft nur durch Tabak und Alkohol, später auch illegale Drogen zusammengehalten wird. In den letzten Jahren macht vor allem der früh einsetzende unkontrollierte Alkoholkonsum große Sorgen, der zu regelrechten Vergiftungserscheinungen vorwiegend bei Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren führt.
Diese Alarmsignale zeigen, wodurch heute die meisten Krankheiten von Kindern und Jugendlichen entstehen: Der elementare Ausgleich zwischen den Anforderungen der inneren und äußeren Welt gelingt nicht, es kommt zu keinem befriedigenden Gleichgewicht von Risiko- und Schutzfaktoren. Die Folgen können die genannten Gesundheitsstörungen sein, Vorboten oftmals chronischer Krankheiten mit immer mehr psychischen und mentalen Komponenten. Viele Kinder leben heute wie kleine Erwachsene: Sie sind viel allein und müssen sich selbst managen. Sie haben häufig den gleichen Zugang zu Medien und Konsumartikeln wie ihre Eltern. Sie sind schon früh verantwortlich für ihre Schullaufbahn mit allen Folgen für die spätere Berufskarriere. Den Wertekompass, den sie in dieser komplex gewordenen Gesellschaft brauchen, müssen sie sich selbst entwickeln. Das ist zu viel für manche kleine Seele. In der stürmischen Phase der Pubertät spitzen sich diese Überforderungen dann noch weiter zu.
Wie können Eltern auf diese Herausforderung reagieren?
Meist fühlen Eltern sich entlastet, wenn sie einen Arzt finden, der auf die psychosomatische und mentale Gesundheitsstörung ihres Kindes mit medizinischer Behandlung und geeigneten Arzneimitteln einwirkt. Aber Eltern spüren zugleich, dass sie damit nicht aus der Verantwortung entlassen sind. Die eigentliche Antwort liegt darin, in die Beziehung zu ihrem Kind und in die Erziehung immer neu zu investieren.
Diese Beziehungsgestaltung ist in einer Gesellschaft mit viel Individualität und Freiheit eine komplizierte Gratwanderung zwischen Ausübung gesunder Autorität als Mutter oder als Vater und Berücksichtigung der kindlichen Bedürfnisse. Das „Erziehungsdreieck“, das jeder Vater und jede Mutter zu lösen hat, hat es in sich: Es besteht aus der richtigen Dosierung von Anerkennung, Anregung und Anleitung.
Das richtige Maß Anerkennung mit Wärme und Zuwendung ist zu finden. Nicht leicht, wenn eine Mutter oder ein Vater selbst unter voller Anspannung steht und durch das Kind beansprucht wird – aber auch dann, wenn das Kind ein geliebtes Einzelkind und die Projektion aller eigenen Wünsche ist. Erziehungsprobleme entstehen heute durch Beziehungen, in denen es einfach nicht zu der notwendigen Anerkennung und Würdigung der Persönlichkeit des Kindes kommt, aber auch durch eine „Überhitzung“ oder eine Überidentifzierung mit dem Kind, die keine emotionale Distanz für eine selbstständige Entwicklung lässt.
Das richtige Maß Anregung soll die Selbstständigkeit fördern und Impulse setzen, die dem Kind zur Weiterentwicklung helfen. Hier machen fast alle Eltern heute den Fehler, überehrgeizig auf die schulische Entwicklung zu achten und nervös auf jedes kleine Versagen zu reagieren. Überforderung und viel innerer Entwicklungsdruck entstehen deshalb schon bei Grundschulkindern. Stattdessen brauchen sie Mitdenken und Mitfühlen und ganz individuelle Unterstützung.
Die richtige Anleitung bildet den dritten Pol. Hier geht es um das Setzen von Regeln, Grenzen und Vereinbarungen, und das fällt Vätern und Müttern heute ebenfalls schwer. Die meisten versuchen, einem autoritären Stil auszuweichen und ohne feste Vereinbarungen und Sanktionen auszukommen. Dabei übersehen sie aber, dass sie damit das Kind ins Leere laufen lassen und eine verbindliche Beziehung verweigern. Richtig strafen zu lernen, wenn Vereinbarungen gebrochen wurden, das gelingt vielen Eltern nicht.
Werden diese drei Pole des „Erziehungsdreieckes“ nicht richtig eingestellt, dann leidet die Beziehung. Viele gesundheitliche Störungen der Kinder haben hier ihre Ursachen. Deshalb brauchen wir nicht nur einfühlsame Ärzte und Psychologen und gute Medikamente, sondern vor allem kompetente Eltern. Wichtig sind Elternseminare, die Tipps und Anleitungen geben, wie sie Persönlichkeit und Gesundheit ihrer Kinder fördern können.
Alle müssen mithelfen – auch in Kindergärten und Schulen sind mehr Aktivitäten zur Gesundheitserziehung und Persönlichkeitsbildung notwendig.
Viele Schulen machen bereits ermutigende Erfahrungen, indem sie Ernährung, Bewegung, Sinneskoordination und Stressbewältigung, Gewalt- und Drogenprävention in ihre Lehrpläne einbeziehen. Die Vorstellung von Gesundheit als einer gelungenen Auseinandersetzung mit den inneren und äußeren Lebensanforderungen hat sich pädagogisch durchgesetzt.
Es wird Zeit, neben den Pädagoginnen und Pädagogen auch die Eltern und dann andere Berufe in die Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche mit einzubeziehen: Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Arbeitstherapeuten, Architekten, Raumgestalter, Physiotherapeuten. Besonders wichtig bei der Gesundheitsförderung sind Kindergärten, Schulen und auch Jugendzentren. Dort müssen Ärzte, Psychologen und andere Fachleute in Beratungsstunden gezielt mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten.
Klaus Hurrelmann ist seit 2009 Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Zuvor war es als Professor für Sozial- und Gesundheitswissenschaften lange Jahre in Lehre und Forschung an der Universität Bielefeld tätig sowie u. a. Leiter des Kooperationszentrums für Kinder- und Jugendgesundheit der Weltgesundheitsorganisation.
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann ist Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Der Artikel „Gesundheit ist nicht konsumierbar. Was Kinder brauchen.“ wurde von der „GESUNDHEIT konkret“ , dem Versichertenmagazin der BARMER GEK, veröffentlicht.