Ein gutes, gesundes und erfolgreiches neue Jahr 2021 wünscht Ihnen der BvNW

 

Eine Sylvestergeschichte

Aus dem Stegreif erzählte einst Eduard Mörike einem 6-jährigen Mädchen diese Geschichte, die noch heute bezaubert: In Wimsheim bei Leonberg wohnte Wilhelm Hartlaub, ein Freund von Eduard Mörike. Dort ging der Dichter an einem kalten Wintertag mit der jüngsten Hausfreundin des Hartlaubschen Pfarrhauses, des Schulmeisters Amele, spazieren. „Eduard“, fragte Amele, so wie sie es einst von den Erwachsenen gehört hat, „Eduard, wer ist der Silvester?“ Eduard Mörike lächelte aus den Augenwinkeln auf seine kleine Freundin herab. „Der Silvester? Ja, der kommt bloß einmal im Jahr zu uns Menschen, und was er da tut, will ich dir erzählen.“ So beginnt Eduard Mörike sein Märchen vom alten Silvester, der das ganze Jahr über schläft, nur am letzten Tag des Jahres wecken ihn die Engel, damit er das kleine Jahrkind mit einer von himmlischen Schimmeln gezogenen Kutsche auf die Erde zu den Menschen herabbringen kann, wo es schon sehnsüchtig erwartet und fröhlich aufgenommen wird.

Dieses Märchen von Eduard Mörike hat auf die Zuhörerin einen solchen Eindruck gemacht hat, dass sie sie später aus dem Gedächtnis niederschrieb, teilweise fast wortgetreu, wie verschiedene Mörikeforscher vermuten. Stil und dichterischer Rang des Märchens sprechen deutlich für Mörikes Autorschaft.

Der alte Silvester und das Jahrkind

Wenn man auf der großen Weltenstraße wandert, weit, weit bis an das Tor, das aus der Welt in das Sternenland führt, dann muss man durch zwölf Sternentäler wandern; immer wieder kommt ein anderes, und endlich, nach dem letzten, da schaut man der Sonne auf den Rücken und steht am Tor, das in den Garten Gottes führt.

Vor diesem Tor steht auf einer weiten grünen Wiese ein kleines Haus. Das ganze Jahr hindurch blühen in seinem Garten wunderfeine Blumen.

Und in einem anderen Garten laufen die vier Mondschimmel, die dem Silvester gehören. Das sind wunderschöne Rößlein, ihr Fell glänzt wie Silber und wenn sie springen, dann fällt von ihren Hufen Mondlicht bis hinab ins Erdenland. Und die Menschen sagen dann: „Guckt bloß‘, wie schön heute Nacht das Mondlicht ist.“

Die Fenster in dem kleinen Hause sind weit offen, und drinnen, uh, da schnarcht es, das tut geradeso, wie wenn einer Baumstämme durchsägt. In der kleinen Stube steht ein mächtiges Himmelbett mit weißen Vorhängen. In diesem Bett schläft und schnarcht der Silvester.

Aber wenn der letzte Tag vom Jahr angebrochen ist, dann kommt von des lieben Gottes Gärten heraus ein kleines Engelsbübchen, das trommelt mit seinen Fäusten gegen die Türe: „Aufwachen, Silvester, aufwachen, es ist Zeit!“ Drinnen im Bett, da kracht und grunzt es: „Mm, öööö!“ Dann werden die Vorhänge zurückgezogen, und ein ganz verstruwweltes Gesicht kommt heraus: „Was, schon wieder Zeit?“

Aber den lieben Gott darf man nicht warten lassen, das weiß auch der Silvester, und bald kommt er gestiefelt und gespornt aus der Türe. Er muss sich bücken, so groß ist er. Seinen Pelz aus Eisbärenfell hat er an, mächtige große gefütterte Stiefel; und in dem Gürtel steckt ein silberner Hammer.

So sperrt er seine Haustüre zu, geht nebenan in die Scheune und zieht einen Schlitten heraus. Dann fängt er seine Schimmel, zäumt sie mit goldenen Zügeln und silbernen Schellen auf, steigt ein und fährt an das Tor des Gottesgartens. Dort schlägt er mit dem Hammer einmal an, und wie der Klang einer tiefen Glocke tönt es zurück, die Tore öffnen sich, und der Silvester geht hinein. Seine Schimmel müssen draußen warten und schlagen den Boden mit ihren Hufen, und bei jedem Schlag regnet es Sternenfunken auf die Erde.

Hinter dem Tor ist ein wunderschöner Garten und hinter dem Garten eine große Halle, die hat nicht Anfang und Ende; und alle Sterne, die Sonne und der Mond stehen da und geben Licht, aber all ihre schönsten Lichtstrahlen sind nichts gegen das Licht, das vom Sitz Gottes ausgeht, das ist tausendmal reiner und heller als der sonnigste Tag bei uns.

Der liebe Gott lächelt gütig dem Silvester entgegen: „Grüß dich, mein lieber Knecht, du willst das Jahrkind holen?“ Er winkt, da geht der Engel St. Michael das Kind zu holen, das neue Jahr. Er geht zum ewigen Strom, hält seine Hand darüber, und da steigt ein Kind zum Ufer.

Der Engel nimmt es auf den Arm und trägt es dem lieben Gott in den Schoß. Der hebt es empor, schaut ihm in die Augen, streicht ihm segnend über die Stirn und reicht es dem Silvester: „Nimm’s, bringe es den Menschen, das neue Jahr Gottes, mit meinem Segen, und bringe mir das alte von der Menschenerde wieder zurück.“

Silvester geht hinaus aus dem Gottesgarten, er setzt das lachende Jahrkind in den Schlitten, deckt es warm zu und nimmt die Zügel, schnalzt mit der Zunge, und hei sausen die Schimmel wie die vier Winde über die Sternentäler weg.

Silberne Funken stieben unter ihren Hufen, die Sterne winken ihnen nach und, kaum gedacht, galoppieren sie auf der großen Weltenstraße und stehen auch bald am Erdentor.

Aus seinem Gürtel zieht nun der Silvester den silbernen Hammer und tut zwölf Schläge. Da springen die beiden Torflügel auf und heraus tönen Glockenklänge aus allen Städten und Ländern. Flugs klettert das Jahrkind aus dem Schlitten, reckt sich hoch am Silvester und gibt ihm mitten auf seinen lockigen Bart einen Abschiedskuss. Dann eilt es weg zu den Menschen.

Auf dem Stein am Tor aber sitzt eine dunkle, gebeugte Gestalt. Müde erhebt sie sich und guckt den Silvester an. „Gelt, du kennst mich nicht mehr?“ – „Herrjeh, mein altes Jahr, schön haben dich die Menschen zugerichtet. Steig nur ein, wir fahren gleich.“ Die Tore schließen sich, heraus schallt noch Klingen und Singen der Menschen, die das neue Jahr mit Jubel begrüßen, dann saust der Schlitten Silvesters den Weg zurück.

Bald steht das alte Jahr vor dem lieben Gott, traurig ob seiner verunzierten Gestalt. Aber Gott hebt die Hand, und Michael nimmt es in seine Arme, trägt es hin zu dem ewigen Strom und senkt es in seine reinen Fluten, bis es als Kind wieder einmal geholt wird.

Dann aber spannt der Silvester seine Mondschimmel aus, lässt sie grasen und setzt sich zu einem guten Vesper, und wenn er gegessen hat, steigt er in sein großes Himmelbett, streckt sich lang und macht die Augen zu bis zum nächsten Silvester.